Am 6. November fand am Käthe-Kollwitz-Gymnasium eine Online-Veranstaltung mit Prof. em. Dr. Michael Wolffsohn (Universität der Bundeswehr/München) statt; zu einem Thema, das seit Jahrhunderten nichts an Aktualität verloren hat: Mitläufertum – gestern, heute und morgen. Elias und Nico begrüßten Prof. Dr. Michael Wolffsohn in ihrem Geschichtszimmer, wo sich die Leistungskurse Geschichte der Klassen 11 und 12 sowie einzelne Interessierte eingefunden hatten. Nico Schütze und Elias Yang übernahmen die Begrüßung und Moderation der besonderen Geschichtsstunde.
Eingangs stellte Prof. Wolffsohn die These auf, der Mensch habe sich trotz technischer und gesellschaftlicher Fortschritte in seinem Wesen kaum verändert. Immer wieder neige er dazu, der Mehrheit zu folgen, anstatt Verantwortung zu übernehmen oder eigenständig zu denken, ein Verhalten, das sich wie ein roter Faden durch die Geschichte zieht. Als Ausgangspunkt diente eine bekannte biblische Szene: Pontius Pilatus stellte das Volk vor die Entscheidung, ob Jesus oder Barabbas freigelassen werden sollte. Die Menge, die noch am Tage zuvor Jesus zugejubelt hatte, entschied sich für Barabbas − nicht aus Überzeugung, sondern aus Anpassung. Niemand wollte Verantwortung tragen, der Mehrheit zu folgen, war und ist bequemer. Prof. Wolffsohn verdeutlichte, wie leicht Menschen sich von Gruppendynamiken beeinflussen lassen, wenn sie Sicherheit in der Masse suchen. Ausgehend von dieser Szene spannte er den Bogen bis in die Gegenwart und zeigte, dass Mitläufertum keine Frage der Zeit, sondern des Charakters ist.
Wissenschaft und Literatur beschäftigen sich mit diesem Phänomen. Der französische Schriftsteller Eugène Ionesco beschreibt in seinem Theaterstück „Die Nashörner“, wie Menschen sich buchstäblich in Nashörner verwandeln, sobald sie beginnen, ihr Denken aufzugeben und dem Verhalten anderer zu folgen. Das Nashorn wurde damit zum Sinnbild des modernen Mitläufers, stark in der Gruppe, aber schwach im Denken. Ergänzt wurde dieser Gedanke durch die Theorie der Kommunikationswissenschaftlerin Elisabeth Noelle Neumann, die mit der "Schweigespirale§ erklärt, weshalb Menschen ihre Meinung verschweigen, wenn sie befürchten, damit allein zu stehen. Dadurch entsteht der Eindruck, alle teilen dieselbe Ansicht, obwohl in Wahrheit viele schweigen − ein Mechanismus, der bis heute wirkt. Prof. Wolffsohn führte weiter aus, wie sich dieses Phänomen besonders deutlich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigte. In Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit und politischer Orientierungslosigkeit folgten viele Menschen autoritären Versprechungen, ohne sie kritisch zu hinterfragen. Angst, Anpassung und das Bedürfnis nach Zugehörigkeit machten Mitläufer zu tragenden Säulen diktatorischer Systeme.
Doch auch in modernen Demokratien könne Mitläufertum entstehen, wenn Menschen sich von der öffentlichen Meinung oder digitalem „Druck“ leiten lassen, statt selbst nachzudenken. Besonders eindrucksvoll verknüpfte der Historiker die historischen Entwicklungen mit aktuellen Beispielen. Er sprach über die Rolle der sozialen Medien, die heute eine neue Form von Masse schaffen: digital, schnell und laut. Zustimmung oder Empörung entstehen oft in Sekunden, Emotionen überlagern Fakten, und der Wunsch nach Zugehörigkeit verdrängt kritisches Denken. In diesem Zusammenhang verwies er auf die gegenwärtigen Ereignisse im Nahen Osten. Ohne Position zu beziehen, beschrieb er, wie stark Emotionen, Bilder und Schlagzeilen wirken und das Denken vieler Menschen prägen. Mitleid und Empörung wechseln sich ab, Meinungen werden übernommen, ohne dass sie wirklich hinterfragt werden. Mitläufertum ist kein ausschließlich politisches, sondern ein menschliches Grundphänomen, das in allen Lebensbereichen auftrete.
Abschließend bezog sich Prof. Dr. Michael Wolffsohn auf den Philosophen Immanuel Kant, der forderte: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ Dieser Gedanke bildet den Gegenpol zum Mitläufertum, den Aufruf, selbst zu denken und damit Verantwortung zu übernehmen. Der Historiker betonte, Mut und Selbstreflexion sind die stärksten Gegenmittel gegen die Macht der Masse. Der Vortrag verdeutlichte, dass sich der Mensch in seiner Umwelt zwar verändert hat, in seinem Wesen aber gleichgeblieben ist: fähig, mitzulaufen und ebenso fähig, stehen zu bleiben, wenn es drauf ankommt. Wir danken Prof. Dr. Michael Wolffsohn für diese spannende Geschichtsstunde, die uns zu Diskussionen anregte und neue Perspektiven aufzeigte, – und nicht zuletzt für seine Zeit.
Nour Alhussaini
Fotos: D. Seichter






